Bitterfeld als Gleichnis für die Moderne
Wider Erwarten ist das Buch spannender als ein Krimi. Viel spannender, als es die Themen Bitterfeld, Wende, Wirtschaft oder Photovoltaik vielleicht vermuten lassen. Monika Maron setzt all diese Elemente auf rund 170 Seiten untereinander in Beziehung und baut einen Spannungsbogen auf, der seine Entsprechung im Bitterfelder Bogen findet, einem stählernen Bauwerk in der Region.
„Flugasche“ heißt das 1981 erschienene Buch von Monika Maron. Erschienen in der Zeit, als der Himmel von Bitterfeld schwarz war vom Dreck der Industrieanlagen. Noch 1985, als ich im verriegelten und von Soldaten bewachten Transitzug nonstop quer durch die DDR nach Berlin reiste, war es finster in Bitterfeld. Und ebenso noch im Wendejahr 1989, als die Tüftler von Wuseltronik in einer besetzten Kreuzberger Fabriketage ihre Solartechnik entwickelten. Der witzige Name war typisch für die linksalternative Anti-Atomkraftszene, ein bisschen verharmlosend aber doch radikal.
Anfangs erinnert der Text an eine Zeitungsreportage, doch nicht lange, dann wird das journalistische Format gesprengt. Die Freiheiten der Literatur: keine Anführungszeichen, die den Lesefluss und das atemlose Tempo stören, und lange inhaltsstarke Sätze über eine drei viertel Seite. „Treuhandmanager sicherten sich die Filetstücke.“ (S.32) Und Literatur darf meinungsstark sein. Meinungsstärker als viele Zeitungen, die sich heute zwar nicht vor der Obrigkeit fürchten, so aber doch vor Abmahnungen und vor allem vor verärgerten Werbekunden.
Der klare Stil trägt einen leicht durch das Buch, kommt weitgehend ohne Fremdworte oder Fachbegriffe aus. Und doch ist jeder Satz gespickt mit Namen und Details, die ein aufmerksames Lesen und manchmal auch Zurückblättern erforderlich machen. IG Farben, Agfa, Orwo und die vielen Personen, wer war das noch, wo, wann. Gut so, komprimiert, inhaltsschwer und eindringlich. Gelabert wird nicht, an keiner Stelle.
Die Fotos von Jonas Maron zeigen eine seltsame Welt wie durch einen Grauschleier, irgendwie leblos, bleiern, ratlos und doch stimmungsvoll und im Aufbruch. Die trüben matten Farben und der leichte Gelbstich erinnern an verblasste Filme aus den 1970er Jahren, an Namen wie Agfa oder an stechend riechende Entwicklerflüssigkeiten.
Obwohl von allem etwas, ist das Buch weder ein Porträt von Bitterfeld-Wolfen, noch eine Firmenlegende von Q-Cells, noch eine Einführung in Erneuerbare Energien, noch eine Aufarbeitung der Wendezeit, der Treuhandabwicklung oder gar ein Resumee der Wirtschaft nach der Wende. Monika Maron erzählt, manchmal ätzend scharf wie die Säure, die in den 1980ern aus den maroden Rohren der Bitterfelder Industrieanlagen tropfte, was ihr vor Ort begegnete: von der moosbewachsenen Skulptur der Chemiearbeiterin, die einst vor der Filmfabrik stand (S. 18, 37), den Königskerzen im Schutt des stillgelegten Industriedenkmals 041 (S. 81), den waldblätterfegenden „Sisyphossen“ im Naturpark Goitsche (S. 127), dem Raucherfrühstück mit Hund im Hotel Deutsches Haus.
Sie erzählt ein Gleichnis von Wissenschaft, Politik und Gesellschaft. Und berichtet von träumenden Ingenieuren, von gewieften Managern, von zupackenden Bürgermeistern, von „chemietoleranten“ Arbeitern, von Bilderbuchkarrieren – vom Schlosser zum Millionär, von Besserwessis, von Günther Grass und von der Region Bitterfeld-Wolfen, wie sie war, wie sie wurde, was sie ist. „Bitterfelder Bogen“ ist eine Parabel auf die Moderne, die nach einem Ausweg aus der Industriemisere sucht. Und es ist wohl das erste deutsche Buch zur aktuellen Wirtschaftskrise, Stand Februar 2009. Mehr als verdient mit dem deutschen Nationalpreis ausgezeichnet – kaufen, lesen!
(Bildquelle (c): Wikipedia, Bitterfelder Bogen)