Über den Schaden, den eine nicht vorhandene Website-Konzeption, eine miese User Experience und laienhafte Texte auf einer Website anrichten können, die eigentlich so einfach wie möglich funktionieren sollte.
Gestern bekam ich einen verzweifelten Anruf, mit dem mich eine 80-jährige Verwandte aus Nordrhein-Westfalen (NRW) um Hilfe bei der Online-Anmeldung für einen ersten Impftermin zur Corona-Schutzimpfung bat. Sie war mit den Nerven am Ende, weil sie seit 2 Stunden versucht hatte, diesen Termin an ihrem Laptop selbst zu buchen. Zuvor hatte sie bereits gefühlt 100-mal versucht, telefonisch bei der Termin-„Hotline“ durchzukommen. Bekannte im gleichen Alter rieten ihr deswegen zur Online-Buchung.
Cookies akzeptieren?
Kein Problem, dachte ich, das erledigen wir schnell gemeinsam am Telefon. Sie nannte mir die Adresse: www.116117.de – „Der Patientenservice“ – erst dachte ich, ich hätte mich verhört, weil die Adresse klingt wie aus dem TV-Nachtprogramm. Prompt ploppt ein riesiges rosa Pop-Up-Fenster auf und drängelt dazu, Cookies zu akzeptieren (Klick Nr. 1) – angeblich für „ein optimales Weberlebnis (…) lediglich zu Statistikzwecken und Komfortfunktionen„. Der pure Hohn, angesichts dessen, was nun folgte.
Ja, es ist möglich, eine Website OHNE Cookies zu erstellen!
Das ist überhaupt kein Problem! Ich frage mich, welche datensammelnde Statistik hier unbedingt sein muss und um welchen Websitekomfort genau sich wohl handelt, bei einer solchen Usability-Katastrophe.
In quietschtbunten Babyfarben Hellblau/Türkis und Rosa (Design einer Kleinkind-Website?) erscheint ein Foto zweier ältlicher Damen im 50er-Jahre-Outfit. Meine Verwandte und ich rätseln über den Sinn und ärgern uns über das klischeehafte, sexistische Motiv. Viel später verstehe ich, worauf diese Bildsprache abzielt, es sollen „Elfen“ sein wie im idiotischen Website-Claim „Die Nummer mit den Elfen„. Dabei weiß jede*r, spätestens aus Harry-Potter-Filmen, dass solche Art Damen fast immer die BÖSEN sind … (Dolores Umbridge, Todesserin) und Elfen komplett anders aussehen (eher wie Tinkerbell aus Peter Pan, Minimoys oder Wurzelkinder)
Mit dieser Website werden ältere, webungewohnte Menschen gezielt für dumm verkauft – finanziert mit Steuergeldern.
Web-Text Basiswissen grob missachtet
Der Seitentitel „Wir helfen wenn Sie krank sind“ – ist zur akuten Situation völlig unpassend und schließt 90 Prozent der User*innen, die nichts als einen Impftermin suchen, sofort aus. Eine Webtexterin benötigt etwa fünf Minuten, so einen Text zu aktualisieren.
Dann folgt – „below the fold“, d.h. erst nach dem Scrollen (für die wichtigste Aktion ein grober Usabilityfehler, gerade für nicht webaffine Personen) – ein Call-to-Action-Modul (CTA) mit zwei Buttons, schwer lesbar auf grell rosafarbenem Hintergrund: Kompliziert formuliert, redundante Inhalte, zu viele und zu lange Substantive, uneindeutig beschriftete Buttons („Infos“ oder „Aktuell“ klicken???) – damit verliert diese Box ihren Sinn, schnell zum Ziel zu führen.
Am rechten Rand ploppt prompt ein Chat-Fenster auf (bekannt von Websites, die was verkaufen wollen), wo es heißt: „Uns gibts auch als Infobot“ – oh Graus. Vorschülersprache gekrönt von technischem Fachvokabular und die beiden Frauen zu Bots, Maschinen, degradiert. Was soll das???
Sicher, man könnte ganz oben auf „Einfache Sprache“ klicken. Allerdings, wenn nicht einmal zwei Akademikerinnen die Sprache der Website entschlüsseln können, wer denn dann? Die Programmierer selbst?
Wer steckt dahinter?
Wie ich es immer tue, wenn ich dubiose Website öffne, suche ich das Impressum. Ganz unten in der Fussleiste steht schließlich ein Logo: „Herausgegeben von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung“. Okay, das scheint seriös zu sein.
Also weiter, 2. Klick auf „Infos zur Impfung und Terminbuchung“ – eine Unterseite öffnet sich, mit exorbitant vielen Klickmöglichkeiten und einer Menge „Infos, die Sie wissen sollten“ – sollte ich das wirklich? Ich will doch nur einen Termin buchen … zum Glück steht dort auch ein gewöhnlicher Textlink mit Tabsprung in Fett, „Terminvergabe in Ihrem Bundesland“, vielleicht von einer mitleidigen Person nachträglich ergänzt, das war der 4. Klick. Der führt auf ein Akkordeon-Auswahlmenü (click to expand) mit allen Bundesländern. Es folgt ein 5. Klick auf NRW, hier stehen viel Text und chaotische Daten mit zwei Wahlmöglichkeiten (*grübel) Man muss wissen, welcher Region der Wohnort zugeordnet ist, sonst endet das hier bereits. Für geografisch wenig bewanderte ist das unmöglich, aber es steht wohl im Brief, den meine Verwandte bekommen hat, also dann ein 6. Klick auf „Westfalen-Lippe“.
Nach dem 6. Klick erscheint eine neue Website!
Man staunt, denn es öffnet sich eine völlig neue Website (116117.app) im neuen Tab: impfterminservice.de/impftermine Wieder muss ein gruselig und viel zu ausführlich betextetes Cookies-Infofenster gelesen und weggeklickt werden (7. Klick) – langsam bekomme ich Kopfschmerzen, weil meine Verwandte ständig dazwischenruft „Da war ich auch vorhin schon, das weiß ich doch“.
Es folgt ein kompliziertes Formular, in dem unzählige Optionen gelesen und ausgewählt werden müssen. Schließlich der 8. Klick „Zum Impfzentrum“ (darunter in FETT ein offensichtlich wichtiger, mehr als ausführlicher „Info“-Text der „Bundesregierung“ in reinster Verwaltungssprache, der gelesen werden will …) Dann folgt der 9. Klick:
Wurde Ihr Anspruch auf eine Corona-Schutzimpfung bereits geprüft?
Ja / Nein (Anspruch prüfen)“ .
Wir klickten selbstverständlich „Ja“, denn der Brief mit der Aufforderung und das Alter 80+ sollten doch genügen. Das stellte sich als falsch heraus, denn gemeint ist hier die rein technische Identitäts-Prüfung für die Anmeldung … also zurück. Klick 10 und „Nein, Anspruch prüfen“ (im Grunde Klick 12 …)
11 Klicks bis zum Scheitern der Terminbuchung
Ab jetzt wirds erst richtig kompliziert. Es folgt eine fettgedruckte, extrem kompliziert formulierte Liste mit neun mehr als ausführlichen Punkten (ca 2 DIN-A4-Seiten, würde man dies ausdrucken). Sie mündete in folgende Frage (um die zu beantworten, MUSS man alles durchlesen) mit dem 11. Klick:
Trifft eine der oben genannten Personengruppen auf Sie zu?
Ja, trifft auf mich zu / Nein, trifft nicht auf mich zu
Okay. Jetzt wirds ernst. Nun braucht man eine E-Mail-Adresse und eine Mobile (!) Telefonnummer. Hätten sie das nicht ankündigen können? Hat das so selbstverständlich jede*r 80- bis 100jährige??? Also mir fallen spontan drei ein, die beides nicht oder nur eins davon besitzen. Die meisten Älteren haben Festnetz und nur wenige eine Mailadresse, geschweige denn sind sie im Internet unterwegs. Weder wird erklärt, was eine SMS ist, noch erwähnt, dass man dafür ein „Handy“ braucht (vielleicht wird die Nummer am Festnetz vorgelesen?) oder eine Möglichkeit, E-Mails abzurufen. Das ist nun der traurige Gipfel dieses frustrierenden, realitätsfernen Verfahrens, das einen wirklich ratlos zurücklässt.
Nach dem Eintragen der Telefonnummer sollte eine PIN per SMS verschickt werden, um danach einen Verifizierungscode an die eingetragene E-Mail-Adresse zu bekommen.
An diesem Punkt ist meine Verwandte gescheitert. Auch beim zweiten Versuch mit meiner telefonischen Unterstützung sind wir gemeinsam gescheitert. Sie wollte keine persönlichen Daten in ein dubioses Internetformular eintragen und hatte wohl auch kein „Handy“ parat. Ich hätte eventuell meine eigene Mobilnummer nutzen können, aber vielleicht hätte sie sich dann vor Ort nicht ausweisen können?
Fazit: Kein Impftermin.
Dieser staatlich verordnete Irrgarten war leider nicht zu lösen. Wir standen inzwischen beide am Rande des Nervenzusammenbruchs. Meine Verwandte ist Akademikerin und hat den Anspruch, alles zu verstehen und nachzuvollziehen. Dafür wären etwa 2 Stunden nötig, wenn sie alles durchliest. Sie konnte nicht verstehen, wieso ich die meisten Punkte ungelesen überspringen wollte (wie man das heute angesichts endloser AGB und Nutzungsbedingungen eben so macht …)
Wie meine Verwandte zu ihrem Impftermin kommen kann, weiß ich nicht. Vielleicht findet sie in ihrer Nachbarschaft eine geduldige Person mit viel Zeit, der/die ihr direkt am Rechner, mit ihrem alten Brikett-Prepaid-Mobiltelefon, alles genau erklärt. Vielleicht versuchen wir es am Wochenende nochmal gemeinsam telefonisch, wenn ich mehr Zeit habe.
Katastrophale Website-Usability
Aus Usability / UX (User Experience)- Sicht ist eine derartige Website ein Desaster. Hätte die Website ein kommerzielles Ziel, wäre der Ablauf anders aufgebaut, denn die Abbruchrate soll möglichst niedrig sein. Wenns um Geld geht, stehen Kunden- und Zielgruppenorientierung, Nutzerführung und Optimierung automatisch an erster Stelle. Weil eben nur das im Web zum Erfolg führt.
Kommerziell erprobte Tools vs. Kraut-und-Rüben-Technik
Aus den Abendnachrichten erfuhr ich, dass der professionelle Anbieter „Eventim“ (Stichwort: Maut-Fiasko), bei dem bereits viele Ältere angemeldet sind, weil sie dort mal Konzertkarten gekauft haben, die eigene, erprobte und ausgefeilte Buchungstechnik für die Impfterminbuchung angeboten hat. Einzig das Land Schleswig-Holstein hat bei diesem guten Angebot zugegriffen – dort läuft die Online-Terminvergabe. NRW jedoch ist aktuell (26.1.) das Schlusslicht bei den Impfterminen, weniger hat nur Niedersachsen.
Kein Wunder.