Der Buchtitel „Wem gehört die Zukunft?“ klingt nach Scifi, Weltall-Doku oder Kristallkugel. Wer wüsste nicht gern, was kommt. Lest das Buch und ihr wisst es. Jedenfalls das, was kommt, wenn sich nichts ändert (wie das so ist, mit der Wahrsagerei). Kann Jaron Lanier hellsehen? Rein optisch wäre es ihm zuzutrauen;) Wie auch immer – ein brillanter Denker wie er ist uns mit Sicherheit mehr als ein paar Schritte voraus.
Weil Jaron Lanier ein Wissenschaftler und Erfinder ist – und noch dazu einer der besten – argumentiert er selbstverständlich nicht spekulativ. Sein Blick in die Zukunft ist so klar und systematisch aufgebaut wie der Quellcode einer Website, ein Stein auf dem anderen, logisch, analytisch, immanent. Mit vielen Links und Anmerkungen, übersichtlich in 9 Teile und 32 Kapitel gegliedert, wie ein Musikstück mit Zwischenspielen und Ausklang. Das Buch hat 480 inhaltsschwere Seiten, sehr dicht und substanziell, es könnten locker 1.000 Seiten sein. Es ist eine vielschichtige Abhandlung über unsere Zukunft im und mit dem World Wide Web. Lanier ist Informatiker, er entwickelt Lösungen und zeigt Alternativen auf, führt Informationen zusammen, informiert.
Friedenspreisträger
In Deutschland bekam das Buch bei seinem Erscheinen im Frühjahr 2014 viele Vorschusslorbeeren, angefangen mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels (der ihm am 12.10.2014 offiziell verliehen wird) und vielversprechenden Kritiken („Dissident seiner selbst“, Die Zeit, 5.6.14, faz: Der Technologe als Künstler und Humanist)
Zu Recht. „Wer sich mit Internettheorie beschäftigt, kommt an diesem Buch nicht vorbei“ schrieb jemand – und das ist mehr als wahr. Man hofft allerdings, dass sich die Leute nicht nur provokante Thesen herauspicken und hochnäsig abkanzeln (wie der Kommentator auf spiegel.de), sondern dem umfangreichen Insiderwissen von Lanier Respekt erweisen und das Buch ein bisschen nachhaltiger lesen. Dann nämlich ist unausweichlich, dass sich der eigene Blick aufs Netz verändert.
Das wäre nicht nur für Entscheidungsträger im IT-Bereich wünschenswert, in Unternehmen und vor allem in der Politik. Sondern auch bei den Technokraten (S. 431) und IT-Praktikern – Webdeveloper, Webmaster, UX-Designer, Administratoren, Hoster, Programmierer – die tagtäglich neue Entscheidungen im Großen oder Kleinen treffen, die konkrete Auswirkungen auf die Gestaltung und Entwicklung des Internets haben.
Keine Angst vor großen Tieren
Lanier bemüht sich um eine barrierearme Sprache, erklärt Fachbegriffe und konstruiert Beispiele, die jeder versteht. Natürlich gibt es Abschnitte, die schwierig zu lesen sind. An solchen Stellen geht der hochkarätige Denker, Philosoph oder Nerd mit ihm durch, er schreibt: „Begrenzungen sind etwas für Muggel“. Trotzdem bleibt das Buch hoffentlich nicht nur Akademikern oder Internetverstehern vorbehalten.
Im Nachwort reflektiert Lanier die Geschehnisse ein halbes Jahr nach Erscheinen des Buches. Er verweist auf neue theoretische Ansätze und die Diskussion zum bedingungslosen Grundeinkommen. (S. 467) Und wundert sich über die eher verhaltenen Reaktionen auf seine Thesen (S.465) – er hat wohl mit mehr Gegenwind gerechnet. Vermutlich kommt das Buch dafür rund 3-4 Jahre zu spät. Zu den Gründungszeiten der Piratenpartei wäre es revolutionär gewesen, geradezu ketzerisch. Heute jedoch ist es vielen klar, dass im Netz etwas gewaltig schief läuft.
Wer also sollte sich aufregen? Die Profiteure halten ohnehin die Füße still, für sie läuft alles prima, sie besitzen und horten die „Sirenenserver“. Die Hoster sichern ihre Pfründe, die Administratoren und Webdeveloper sind mit Updates beschäftigt, um technisch am Ball zu bleiben. Und die Masse der Internetgemeinde teilt sich auf in diejenigen, die sich so ihre Gedanken machen – und die große Mehrheit, die weiter so tut, als wäre nichts. Als würde sie der Verkauf ihrer Daten nichts angehen. Sie wollen auf keinen der kostenlosen Vorteile verzichten und nicht auf die pseudogemütliche Puzzle-Ecke, die ihnen Facebook bietet.
Sprüche wie „Du bist nicht der Kunde der Internetkonzerne. Du bist ihr Produkt.“ (Cover) oder „Ihr Verlust der Privatsphäre macht andere reich.“ (S. 149) werden als störende Moralpredigten eines Spielverderbers empfunden, wie mahnende Erwachsenen-Ratschläge. Diesen Leuten ruft Lanier zu: „Erwachsenwerden ist gut! Man gewinnt dabei mehr, als man verliert.“ (S. 181)
Wer will, kann das heute alles wissen. Der Rest blendet es aus und frönt weiter sorglos dem kostenlosen „Social Web“. Sozial übrigens nicht im Sinne von gemeinnützigem Engagement, sondern von gesellschaftlich (re-)päsentieren und kommunizieren.
Hyperarbeitslosigkeit und Niedergang der Mittelschicht
„Das Internet hat mehr Arbeitsplätze zerstört als geschaffen.“ (S. 45) Die steigende, sich manifestierende Arbeitslosigkeit innerhalb der Mittelschicht unserer hoch technisierten Gesellschaft ist eine der gedanklichen Herausforderungen, deren sich Lanier stellt. In den USA ist die Lage weitaus extremer als bei uns, viele Menschen, denen es noch vor wenigen Jahren relativ gut ging, sind mit blanker Armut konfrontiert. Zur Mittelschicht zählen dabei die Ärztin mit der Hausarztpraxis genauso wie Lehrer, Handwerker, Verkäuferinnen oder Facharbeiter, jedenfalls die, die noch Arbeit haben. „Die Stärkung der Mittelschicht ist im Interesse aller“ (S. 274)
Aus seiner Sicht als Informatiker muss es gegen die drohende Hyperarbeitslosigkeit eine praktikable Lösung geben, indem man bestimmte gesellschaftspolitische Aspekte verknüpft und die Parameter verändert. Höchst interessant ist es, wie Lanier aus dieser Perspektive heraus verschiedene Berufszweige näher beleuchtet, darunter die Pflegeberufe (S. 137), die Aussichten für Akademiker (S. 134), für Verlage und den Buchhandel (S. 319 u.a.) und nicht zuletzt der Webworker. Für uns in Europa ist dies wahrlich ein Blick in die Zukunft. Denn, die extreme gesellschaftliche Entwicklung wie in den USA steht uns hier erst noch bevor.
Big Data und die Sirenenserver
Der Internetpionier Jaron Lanier über düstere Aussichten – eine exzellente Kurz-Rezension von Melanie Thun auf daserste.de/ttt bringt dieses Kapitel auf den Punkt. Lanier schreibt: „Den Leuten ist überhaupt nicht klar, welche Gefahr von Big Data ausgeht. (…) Mit einem Ziel: Um Vorhersagen darüber zu machen, wie man den meisten Profit aus uns schlägt, wie man jemanden am besten manipuliert.“
Sein Vorschlag für mehr Gerechtigkeit ist, die Leute mittels „Nanozahlungen“ an der Ausbeutung ihrer Daten durch die „Sirenenserver“ (gemeint sind Datenkraken-Unternehmen, die u.a. mittels Tracking riesige Datenmengen abschöpfen und verwerten, wie Google, Facebook, Amazon u.v.a.) finanziell zu beteiligen. Jaron Lanier plädiert für die Entwicklung einer humanistischen nachhaltigen Informationsökonomie (S. 308, 348) und einer „ökonomischen Netzneutralität“ (S. 363, 364): „Die Grundidee der humanistischen Informatik lautet, dass die Herkunft (der Information) wertvoll ist (…) Herkunft wird zum Grundrecht.“ (S. 317, 318)
Geben und Nehmen
Der Machbarkeit und Durchführung seiner Vorschläge widmet er sich in in Teil 9, „Die Probleme des Wunders“ (S. 419 ff.) und distanziert sich davon, diese Veränderungen nur durch Zwang durchzusetzen. Aus meiner Sicht gibt es im Umfeld von WordPress bereits diverse Beispielunternehmen wie Studiopress, deren Erfolg zeigt, dass sein Plan sowohl für einzelne Webworker wie auch für Unternehmen gleichermaßen funktioniert. Auch das System der Zweiwege-Links wird vielerorts bereits weiterentwickelt.
Die Gestaltung der Preise und Höhe der Nanozahlungen beschreibt er auf S. 348 („Gestaltung der Preise … Mischkalkulation“) und S. 352 („proportionaler Anteil“) – hier fasst er sich recht kurz, ihm geht es mehr ums Prinzip. Nach dem Grundsatz, „dass Menschen andere bezahlen müssen, wenn sie selbst bezahlt werden wollen.“ (S. 365) Im Grunde heißt dieser Ausgleich nichts anderes als: Geben und Nehmen.
Für ein freies, kreatives Leben
Besonders gut gefällt mir an dem Buch, dass es sich von der reinen Theorie löst und sogar als praktische Anleitung für das, was kommt, verwenden lässt. „Mit einem guten oder interessanten Leben ein bisschen Geld verdienen“ (S. 350) ist natürlich genau das, worum es geht, jedenfalls aus meiner Sicht. Andere würden vielleicht das „bisschen“ streichen“. Tipps von jemandem wie Jaron Lanier könnten jedenfalls für jeden Einzelnen ausgesprochen wertvoll sein, für mich sind sie es.
Neben dem Hochfrequenzhandel in der Finanzbranche, den Aktienhändlern, Adressverkäufern, Konzernen wie Wal-Mart, Google, Amazon & Co (S. 102 ff) widmet er sich der Entwicklung des Journalismus und der Kreativbranche „Die Gruppen der Mittelschicht, die bereits ihre Absicherung verloren und ihre wirtschaftliche Würde an die Sirenenserver abgegeben haben, werden manchmal auch „Kreative“ genannt (…) Musiker, Journalisten und Fotografen.“ (S. 130) Als Musiker liegt ihm die schwierige Lage seiner Zunft besonders am Herzen. „Kopiert man Musik, nimmt man einem Musiker die wirtschaftliche Würde.“ (S. 83)
Er zeigt Wege auf, wie es möglich ist, sich in einer vernetzten Welt zu behaupten und zu überleben (Teil 8) Interessanterweise münden seine Schlussfolgerungen zum Thema „Überleben als künstlerische Urheber“ mehr oder weniger in das viel gescholtene deutsche Urheberrecht. Seine eigene Tätigkeit als Autor („Lebensmodus in Superzeitlupe“, S. 438) reflektiert er im Abschnitt „Was ist an Büchern erhaltenswert“ (S. 445).
Im Grunde ist sein Vorschlag der „Zweiwege-Links“ (Ted Nelson, Two-Way Links S. 297) vergleichbar mit dem Link für die VG-Wort, den ich in den Quellcode unter diesen Text setze, um im nächsten Jahr bei der Ausschüttung je nach Anzahl der Klicks ein paar Euro für diesen Text zu bekommen. Kleinvieh macht auch Mist.
Die Welt der digitalen Würde
Lanier plädiert für eine planbare Absicherung der Menschen (S. 46, S. 326), auch für Kreative oder „Idealisten, die Beiträge zu offener Software leisten“: „In einer humanistischen Informationswirtschaft zehren die Menschen im Alter von den Tantiemen für die Leistungen, die sie erbracht haben, als sie jünger waren. (…) die Idee, dass die lebenslangen Beiträge kreativer Mensschen vergessen werden könnten und sie immer wieder von neuem anfangen müssten, ist mehr als ungerecht.“ (S. 327)
Er wendet sich gegen die Idee der „Open Culture“, u.a. von der Piratenpartei (S. 326), darunter etwa die Forderung, dass Musiker ihr Geld nur live verdienen sollen: „Diese Strategie funktioniert allenfalls für Menschen, die immer gesund sind und keine Kinder haben. Und am besten (…) wenn auch die Eltern des Musikers gesund, begütert und spendabel sind.“ (S. 326, S. 80, 83)
Er entlarvt Teile der Web-Euphorie als bequeme Selbstverwirklichungsphase gepamperter Mittelklassekinder – die durch den Wertverlust und das Schönreden ihrer Arbeit zugleich ihre eigene Zukunft aufs Spiel setzen – und argumentiert provokativ gegen die Gratis-Kultur im Internet (421-425)
Das nehmen ihm logischerweise diverse Leute aus dem Piratenparteispektrum ziemlich übel, was allenthalben nachzulesen ist. Hinzu kommt, dass die „Mittelschicht“ in einem bestimmten politischen Spektrum ohnehin als grundsätzlich verdächtig und satuiert gilt.
Nachrichten aus dem Herzen des Internets
Spannend zu lesen ist, wie er als Augenzeuge, Initiator und Mitwirkender direkt aus dem Zentrum der IT-Industrie berichtet, einflussreiche Persönlichkeiten portraitiert und intime Einblicke ermöglicht. Er zeigt die Mechanismen des computergestützten Aktienhandels auf und offenbart die enorme wirtschaftliche Macht desjenigen, der den leistungsstärksten Server besitzt, die beste Hardware, den „Siren Server“.
Er erklärt die „Vermischung von Hippie-Spiritualität und Technologiekultur“ (S. 282) und die neue Religion der Unsterblichkeit, die, ausgehend von Silicon Valley und der Singularity University (S. 407), eine große Rolle zum Verständnis wichtiger IT-Akteure spielt. Damit schlägt er die Brücke zwischen brotlosen Kreativen, idealistischen Open-Source-Tüftlern und abgehobenen IT-Milliardären – die auf ihre Art viele ideelle Gemeinsamkeiten haben.
Journalismus und freie Bildung
Lanier widmet sich ausführlich dem Thema Universitäten und Bildung – und welche Veränderungen sich durch die autarken, selbstbestimmten Weiterbildungsmöglichkeiten im Internet ergeben. Welche neuen Jobs dadurch entstehen, wie Akademiker mehr Wertschätzung erfahren und welche Möglichkeiten sich für alle Bürger bieten. (S. 133)
Seine Zusammenfassung zum Stand des Journalismus (in den USA) ist deprimierend. Er zeigt auf, wie sich der kritische Journalismus dort bereits heute im Grunde nur noch durch Sponsoring finanzieren lässt. Als eine Art Ablasszahlung fungieren die IT-Milliardäre am Ende als finanzielle Retter der ruinierten unabhängigen Presse.
Insgesamt ist spürbar, wie sich die Netzdiskussionen verändern – nach den Snowden-Enthüllungen, mit den laufenden Debatten über Datenschutz, Bürger- und Urheberrechte und nicht zuletzt durch Jaron Lanier, dessen Stimme gehört und respektiert wird. Mehr Leute halten inne und kommen ins Grübeln. Die frühere Interneteuphorie wich einer gewissen Ernüchterung. Nicht nur Lanier hat die 180-Grad-Wende hingelegt, auch Leute wie Sascha Lobo („Ich habe Geld sehr lange unterschätzt“, Interview vom 28.8.14, t3-Magazin Nr. 37)
Wo sich immer mehr scharfe Denker mit der Entwicklung einer neuen Art der weltweiten Vernetzung befassen, keimt die leise Hoffnung, dass dies bald Wirklichkeit werden könnte: Der Neustart, ein Reboot, mit unserem Internet 3.0 – eine neue Version mit Zweiwege-Links und bereinigtem Code, ohne die alten Fehler zu wiederholen. Vielleicht kann Jaron Lanier wirklich hellsehen.
Fazit: Es macht Spaß, Jaron Laniers Gedanken zu folgen. Kauft und lest dieses Buch, um an der aktuellen Diskussion teilzuhaben.
Am besten direkt über den Verlag Hoffmann und Campe oder im Buchladen um die Ecke:
Jaron Lanier – Wem gehört die Zukunft?
ISBN: 978-3-455-50318-0
Erschienen am 08.02.2014, 480 Seiten
Übersetzung: Dagmar Mallett, Heike Schlatterer
Verlag Hoffmann und Campe, 24,99 Euro (D) / ebook 19,99 Euro
„Brave New World (A.H.) reloaded“… Ich hol mir den! Danke für den tiefen Einblick in Laniers neueste Werk.
Dankeschön, you’re welcome 🙂
Anders als bei Huxley ist dies jedoch keine Utopie, sondern Realität *gg
Der passende Roman ist Dave Eggers „The Circle“ – im August erschienen: http://www.zeit.de/2014/33/ueberwachung-dave-eggers-circle