
Kampfläufer, Killjoys und Deutschlands Exoten.
Möglicherweise ist dieses Buch nur dann genial, wenn man es an einem verschneiten Wintertag auf dem brandenburgischen Land liest und dabei in einem hyperbequemen Sitzsack abhängt. Ich bin also quasi befangen.
Zudem besteht die Gefahr, 500 Seiten an einem Tag zu lesen, weil man unbedingt wissen will, wie sich die Figuren weiter durchschlagen: Der abgehobene Start-Up-Technokrat und seine pferdeliebende Freundin, der knorrige Alt-Kommunist und sein Erzfeind, der ebenso mächtige wie brutale Geschäftsführer des örtlichen Landwirtschaftsgroßbetriebes. Dann natürlich das idealistische Akademikerpaar, das in ihrem liebevoll restaurierten Häuschen von einem rabiaten Nachbarn eingeräuchert wird, einem Schrottplatzmechaniker mit düsterer Vergangenheit. Und die verwirrte Alte mit den 20 Katzen. Oder die Ärztin und ihr Gatte, ein Autor mit Schreibblockade, die sich nur durch stundenlanges Rasenmähen auflöst. Schließlich die schönen Dorftöchter, die ihrer eigenen Wege gehen und ein gutmeinender Bürgermeister, der alles zusammenzuhalten versucht.
Vielleicht ist eine solche Geschichte aus dem dünn besiedelten Brandenburgischen post-diktatorischer Prägung andernorts unverständlich? Und nicht übertragbar auf Dörfer im Rest der Republik, in Spanien, Großbritannien oder Texas? Nein, ich denke das nicht. Im Grunde ist sie genau das – übertragbar. Hier wie dort fallen die Heuschrecken ein – gierige Investoren, die Alteingesessenen das Land und die Häuser unterm Allerwertesten wegkaufen. Vielerorts überlebt die lokale Landwirtschaft nur durch Subventionen, es fehlen Perspektiven und die Infrastruktur verrottet. Gleichzeitig haben viele Großstädter die Nase nicht nur von Autoabgasen voll und ziehen aufs Land, fürs Wochenende oder länger – sie bleiben dennoch in den Städten verwurzelt.
Jedes Dorf auf der Welt braucht eine Überlebensstrategie – im Mittleren Westen der USA genauso wie in Brandenburg. Im fiktiven 100-Häuser-Dorf „Unterleuten“, verortet in der Prignitz nordwestlich von Berlin, sollen 10 große Windräder die Zukunft einläuten. Sollten diese aufgestellt werden, könnte das Dorf einen Kindergarten und die Abwasserleitung finanzieren (sagt der Bürgermeister) sowie Arbeitsplätze in der Landwirtschaft sichern (sagt der Geschäftsführer).
Im Dorf formiert sich eine Gegenbewegung, angeführt vom 70jährigen krückstockschwingenden Vorzeigeproleten Kron, der bei Randale schon immer in der ersten Reihe stand („Win-win sagen die Abzocker, wenn mehr als ein Schwein Platz am Trog findet, erklärte Kron.“ Kap. 24). Auf seine Seite stellt sich der vogelschützende Ex-Soziologieprofessor Gerhard, der mit seiner 20 Jahre jüngeren Frau Jule vor drei Jahren aus Berlin nach Unterleuten zog. Er sieht seine makellose Aussicht auf den Horizont bedroht – sowie die 33 „Kampfläufer“, eine seltene Vogelart („ … grau-fleckige Vögel von Größe und Statur einer kleinen Mülltüte, allerdings mit erstaunlicher Flugfähigkeit.“ Kap.13/Cover).
Und dann ist da noch ein reicher bayerischer Investor im Anmarsch, der aus purem Übermut 250 Hektar Dorfland ersteigert hat. Bei auslaufenden Pachtverträge erhöht er postwendend den Zins – und damit den Druck auf die Dorfbewohner. Er kokettiert mit der Idee, durch „saubere“ Windräder die Reha seines drogenabhängigen Sohnes zu finanzieren.
Schließlich stellt sich heraus, dass das entscheidende Stück Land für den Windradbau einer nicht minder egozentrischen Person gehört. Diese streut, angespornt von einem dubiosen Ratgeberbuch („Dein Erfolg“), Salz in offene Wunden. Bis am Ende alles eskaliert … lest selbst! Es lohnt sich.
Die vielfach preisgekrönte Autorin Juli Zeh, studierte Juristin, setzt ihre schnörkellosen Worte gekonnt und mit einer Präzision, die nicht nur gestandene Germanistinnen staunen lässt. Schöne Satzkonstruktionen, spannende Herleitungen, feines Spiel mit Zeiten und Perspektiven, Kapitel nach Personen (frei nach „Game of Thrones“;) und ausgeklügelte Spannungsbögen – großartig. Hier läuft jede Kritik am Sprachlichen ins Leere. Wenn ich ein bisschen mäkeln wollte, könnte ich schreiben, dass manche Sätze für meinen Geschmack ein bisschen sehr glatt geschliffen daherkommen. Aber, besser so als umgekehrt – geschenkt.
Genauso perfekt sitzen die knalligen Statements, die die Autorin ihren Figuren in den Mund legt. Besondern Spaß machen die herrlichen Profilbeschreibungen („Killjoys verdarben anderen den Spaß, den sie selbst nicht hatten.“ Kap.23). Genau. Man erkennt sich selbst und andere in diesem kleinen, komprimierten Ökosystem Unterleuten, in dem sich die ganze weite Welt widerspiegelt.
Kaufbefehl:
Juli Zeh – Unter Leuten, Luchterhand Verlag, 1. Auflage 2016
Websites zum Buch unterleuten.de & zur Autorin: juli-zeh.de