Eine Auswahl der schönsten Geschichten aus einem fernen asiatischen Land.
Als Kultur- und Reiseziel rückt Vietnam erst seit einigen Jahren wieder neu ins Blickfeld des Westens. Vietnam wurde lange nur mit Krieg und Leid assoziiert, Vietnamesen reisten auf der Suche nach einem besseren Leben in den 1970er/80er Jahren zum Arbeiten bis nach Deutschland. Die Kriegsgeschichten werden inzwischen abgelöst von schwärmerischen Berichten über die köstliche vietnamesische Küche, sanftmütige Menschen, herrliche Pagoden und Ferieninseln mit traumhaften Palmenstränden.
Von den vielen Facetten dieses Landes berichten auch die Geschichten in diesem Buch. Es sind kleine Perlen der asiatischen Literatur, von berufener Hand kenntnisreich ausgewählt. Die Herausgeberin Alice Grünfelder ist Sinologin, Lektorin und Literaturagentin, sie moderiert Lesungen und publiziert Bücher zu Tibet, China – und Vietnam. Trotz der schwierigen ökonomischen Bedingungen, denen Buchverlage heute ausgesetzt sind, nimmt der engagierte Unionsverlag in Zürich solche besondere Weltliteratur ins Programm und stärkt so die Verbindung zwischen westlicher und asiatischer Kultur.
Neben einigen Edelfedern der westlichen Reiseschriftstellerei versammelt die Herausgeberin in ihrem Buch die unterschiedlichsten Autorinnen und Autoren vietnamesischer Herkunft. Deren Texte unterscheiden sich im Tonfall und in der Art, die Geschichte aufzurollen, ganz grundlegend von den westlichen. Allein dies ist bereits ein Augenöffner, mich jedenfalls hat es überrascht und gepackt.
Der bekannte amerikanische Reiseschriftsteller Paul Theroux ist mit einer Zugreise-Story vertreten – typisch für ihn und gleichermaßen für Vietnam. Marguerite Duras, die in Saigon geborene große französische Literatin, erzählt vom alltäglichen Leben im kolonialen Saigon und den Besonderheiten des oft verklärten Kolonialstils.
Zwei Buchseiten genügen der italienischen Autorin Oriana Fallaci, um die Tragödie der gefolterten ermordeten Vietkong ins Bewusstsein zu rücken. Die deutsche Reisereporterin Marina Katz berichtet farbenfroh von der Marktfrau Tanh, die im Mekongdelta vom Boot aus Drachenfrüchte und Krabbenfallen verkauft.
Heftig ist die Story des deutschen Reisereporters Gerhard Waldherr „Was alles in den Kochtopf wandert“. In den schönsten Worten erzählt er von einer hässlichen Gewohnheit: Bushmeat. Der Verzehr von Wildtieren ist in Vietnam ebenso verboten wie verbreitet: Auf der Speisekarte stehen Affe, Stachelschwein, Waran, Bärenpenis, Tibetkatze … ganz wie bei Indiana Jones.
Auch bei Nguyen Huy Thiep geht es richtig zur Sache. Sein Held Herr Mong ist Chef auf einem Düngermarkt. Wo kein gewöhnlicher Mist angeboten wird, sondern frischer Menschenkot. Das Motto des lebensfrohen Herrn Mong: „Scheiße wegräumen ist der beste Beruf der Welt!“ Nguyen Huy Thiep ist gut zu lesen, schreibt sehr schön und dicht am Geschehen, stimmungsvoll und vieldeutig. So auch in seinen „Windgeschichten aus dem Bergdorf Hua Tag“, die von bizarren Wendungen des Landlebens berichten.
Meine Lieblingsgeschichte ist die von Tran Thuy Mai, eine mehrfach ausgezeichnete vietnamesische Autorin. In „Das Grabmal des Kaisers Tu Duc“ erzählt sie von der Begegnung zwischen einem in der Vergangenheit erstarrten Archäologieprofessor und einer jungen Touristenführerin. Das alte und das moderne Vietnam treffen aufeinander, lernen sich kennen und verstehen.
Der Autor Ma Van Khang zeichnet in „Das Warten der Frau Vy“ das filigrane Sittenbild einer vom Krieg zerrissenen Gesellschaft: Die alte Mutter und ihr vom Militär heimkehrender Sohn, die ebenso neugierigen wie hilfsbereiten Nachbarn, unbrauchbar gewordene Traditionen und eine pragmatisch-kühle Staatsbürokratie.
Vielleicht ist es eine ungewöhnliche Art, sich über Sprache, Literatur, Journalismus einem Land zu nähern. Doch diese detailgenauen Geschichten erschaffen sinnlich erfahrbare Bilder von bunten Märkten, tristen Bergdörfern, kolonialen Städten bis hin zum stinkenden Mistmarkt. Beinahe übel wird einem bei der intensiven Beschreibung dieses Marktes, den man beim Lesen fast zu riechen meint.
Heute befahren Kreuzfahrtreisende den kilometerbreiten Mekong River und bestaunen die traumschöne smaragdfarbene Halong-Bucht, die auch das Titelbild des Buches ziert. Eine der Geschichten berichtet von Piraten-Dschunken, die sich früher dort versteckten. Für Vietnamreisende ist dieses Buch ein Must-have oder vielmehr ein Lese-Muss. Für die, die gerade nicht reisen können, liefert das Buch die besondere Prise authentisches Asien-Feeling. Die Stories sind anspruchsvoll aber dennoch zugänglich, kurz und mit Bildern aufgelockert. Ein entspannter Happen Asienliteratur – im Liegestuhl am Pool, im Flugzeug oder in der Berliner U-Bahn.
Mit Nebenwirkung: Die Geschichten zaubern beim Lesen ein feines asiatischen Lächeln ins Gesicht.