Viele reden derzeit über Taiwan, wenige waren dort. Alice Grünfelder schon, und zwar im Jahr 2020, als sich die „Wolken über Taiwan“ bereits zusammenzogen. Ihr neues Buch handelt vom Alltag, von den Träumen und Wünschen der Menschen, die sie dort traf.
Eine Insel im Chinesischen Meer.
Reisende, möchtest du gern (wie ich) oder hast du das Glück, nach Taiwan zu reisen, dann packe dieses Buch ein. „Wolken über Taiwan“ ist ein buntes Lesebuch mit unterschiedlichsten Textarten: kleine Geschichten, Gedichte, literarische Miniaturen, politische Reflexionen, Reiseerzählungen. Es geht von A bis Z um eine ferne, exotische Insel im Chinesischen Meer, direkt vor Chinas Ostküste: Taiwan.
In kurzen Notizen und Momentaufnahmen beleuchtet die Autorin das heutige Taiwan im Jahr 2020, zu Beginn der Covid-19-Pandemie. Sie berichtet von Begegnungen, Erlebnissen und Sehenswürdigkeiten jenseits touristischer Klischees. Während des Lesens spürt man die besondere Stimmung in der Hauptstadt Taipei und wir bekommen Einblick in die Gefühlswelt der Inselchinesinnen und -Chinesen. Daneben stehen ganz andere, faktenorientierte Kapitel, die sich historischen und dramatischen politischen Ereignissen widmen. In diesem umfangreichen Buch wird wirklich jeder und jede fündig werden.
On the Road.
Die Autorin verbrachte 2020 ein halbes Jahr in Taipei, gerade als Covid-19 ausbrach. In ihren Notizen lässt sie uns teilhaben an ihren Gesprächen mit den unterschiedlichsten Leuten, an kulturellen und politischen Ereignissen – von der Protestveranstaltung bis zum Nachtclub – an inselweiten Ausflügen und vielen kleinen Abenteuern unterwegs in Taiwan. Und an ihrem Chinesisch-Sprachkurs.
„Chinesisch lernen ist die ständige Konfrontation mit dem eigenen Ungenügen.“
Alice Grünfelder ist Literatin, keine Journalistin und keine Reisereporterin. Mit ihrer Sprache malt sie sinnliche, farbige Bilder und lässt uns eine fremde Lebensweise erspüren. Wir nehmen Teil an den kleinen und großen Sorgen sowie Freuden der Menschen aus dem Umfeld der Autorin, aus den Kreisen der Kreativen, Intellektuellen, Kunstschaffenden, Frauen, Studierenden, Aktionistinnen und Aktiven, Spirituellen, Autoren und Künstlerinnen, der Jungen und Alten.
Sie schreibt über das tägliche Leben, wie es sich auf der Straße, im Bus, Restaurant und an der Universität abspielt. Und sie schreibt, dies etwas nüchterner, über Literatur, Politik und Geschichte des Landes.

Rotpunkt Verlag, 260 Seiten, gebunden oder ebook.
Duftmarken der Vergangenheit.
Die Verfasserin ist eine profunde Kennerin der Region. Als Sinologin, Übersetzerin und Herausgeberin von Reisebüchern und Anthologien, befasst sie sich seit vielen Jahren mit chinesischer Literatur und Lebensart. Sie ist keine gewöhnliche Touristin, keine Abenteuerreisende, sondern lässt sich mit Haut und Haar auf die Landeskultur ein. Sie schreibt über das, was sie interessiert – und das ist ziemlich viel – und zumeist die Schönen Künste. Daneben nimmt sie an einem Drachenbootrennen teil, praktiziert Qi Gong und erforscht Graphic Novels gleichermaßen wie Tempel und Natur. Wir erfahren Details über historische und politische Ereignisse, sie nennt es die „Duftmarken der Vergangenheit“. Sowie über die geologischen Besonderheiten der Vulkaninsel mit Schwefeldampf und Magma.
„Der ganze Berg ist in verhaltenem Aufruhr. Voller Ingrimm und Zorn auf die Menschen …“.
Weitgereiste Autorin, Übersetzerin, Sinologin.
Alice Grünfelder ist eine ausgewiesene Asien-Kennerin, Sprachwissenschaftlerin, Weltreisende und Literatin. Mit diesem professionellen Hintergrund gelingt ihr weit mehr als ein übliches Landesportrait. Vielmehr wirft dieses Buch ein persönliches, emotionales, philosophisches, aber auch detailliertes, anspruchsvolles und erhellendes Blitzlicht auf ein Land mit vielen Gesichtern. Es lohnt sich, zwischen den Zeilen zu lesen, nochmal zu lesen und manchem, das nur angedeutet wird, nachzuspüren.
In einigen Texten wird Insiderwissen vorausgesetzt, das zumindest ich nicht habe. Was ist beispielsweise eine Taiji-Bildhauerfigur, was ist ein Homofon, wer ist dieser oder jener beiläufig erwähnte chinesische Autor.
Das Buch ist ästhetisch gestaltet, modern, bunt und griffig, mit exzellent lesbarer Typografie auf edlem Papier gedruckt. Das erklärt den stolzen Preis.
Fazit
Wer schon immer mal nach Taiwan reisen wollte (wie ich), dort bereits gewesen ist oder in nächster Zeit eine China-Reise plant, wird aus diesem Buch viel Inspiration schöpfen. Es ist eine leicht zu lesende Sammlung kurzer Texte, aufblitzender Spotlights, tiefschürfender Momentaufnahmen. Sie stimmen auf das Land ein, lassen uns die Atmosphäre spüren und den Puls der Großstadt Taipei, wir erfahren was die Menschen bewegt, auf dieser fernen Insel mitten im chinesischen Meer.
Am seidenen Faden.
Aus meiner Sicht ist Taiwan das China, wie es sein könnte – ein Antipode, ein Spiegelbild, eine freie, kreative, moderne, bunte und lebensfrohe Gesellschaft. Und natürlich auch eine prosperierende Wirtschaftsmacht („Made in China“). Die permanent einem bedrohlichen Schatten trotzt, den „Wolken über Taiwan“.
Jetzt, im Sommer 2022, ist Taiwan einmal mehr in den Schlagzeilen. Angesichts des Ukraine-Krieges wird spekuliert, Taiwan könnte ähnliches widerfahren: Ein Einmarsch der benachbarten Großmacht mit den Ziel, sich das Land und seine Schätze einzuverleiben. Das wäre dann wohl, ähnlich wie in Hongkong, das Ende dieser erfolgreichen, freien, kreativen und – trotz allem – unbeschwerten Inselkultur.
Wolken über Taiwan. Notizen aus einem bedrohten Land.
von Alice Grünfelder
Rotpunkt Verlag, 260 Seiten, gebunden oder ebook, mit Landkarten
ISBN 978-3-85869-943-5
Erhältlich beim Rotpunkt-Verlag, in jeder Buchhandlung und bei Autorenwelt.