Ein Reiseroman über Reisen in China, alleinreisende Frauen, die Seidenstraße – und eine Wüste ohne Wiederkehr.
Die Autorin Alice Grünfelder nimmt uns mit auf eine abenteuerliche Tour in die Wüste Taklamakan in Xinjiang im Nordwesten Chinas, Land der Uiguren und der Seidenstraße. Wir quetschen uns mit ihr auf schmale Pritschen in überfüllten Zügen, verhandeln auf Chinesisch mit hinterhältigen Fahrern und störrischen Provinzverwaltungen, geraten in gefährliche Situationen zwischen Erschießungskommando, Rebellen und Schmugglern, übernachten in kleinen Herbergen und trinken Tee in wildromantischen Karawansereien, streunen durch staubige Basare und schmale Altstadtgassen, klopfen an fremde Türen und geraten an mehr oder weniger attraktive Begleiter. Gemeinsam mit den beiden Heldinnen erleben wir China mit allen Sinnen und begleiten sie auf ihrem Weg zu Fuß oder per Jeep durch die Wüste. Es ist, als spürten wir beim Lesen den Staub im Hals und die Trostlosigkeit der Landschaft am eigenen Leib.
„Die Wüstengängerin“ ist ein wunderbar geschriebener Abenteuerroman, irgendwo zwischen klassischer Reiseliteratur, Frauenroman und Karl May. Im Unterschied zu diesem hat die Autorin Alice Grünfelder das Land, über das sie schreibt, selbst bereist. Sie ist Sinologin, Germanistin, Literaturagentin und bekannt als Herausgeberin mehrerer vielseitiger Erzählbände aus Asien im Unionsverlag.
Ihr erster Roman ist alles andere als eine leichtfüßige Reiselektüre, sondern eher wie ein nervöser, aufreibender, hartnäckiger Wüstenwind. Er kratzt nicht nur an der Oberfläche, sondern dringt tief ein in die Verwicklungen vor Ort sowie in die Motive und Gefühlswelt einer alleinreisenden Europäerin in einem unwirtlichen, abweisenden und zugleich exotischen Landstrich.
Mit lockerer Feder und scharfem Verstand erzählt die Autorin die Geschichte zweier deutscher Frauen, die mit 20 Jahren Abstand im fernen China auf der gleichen Route in der Region Xinjiang unterwegs sind. Die eine, Roxana, ist Archäologin und forscht im Land der islamischen Uiguren nach buddhistischen Höhlenmalereien. Die andere, Linda, ist Entwicklungshelferin und soll ein Baumpflanzprojekt in der Wüste voranbringen. Auf 239 Romanseiten mit 26 Kapiteln wechselt die Erzählung immer wieder zwischen Roxanas und Lindas Erlebnissen und stellt diese einander gegenüber. Roxanas in der Vergangenheitsform, Lindas in der Gegenwart.
Reisen als existenzielle Erfahrung.
Von der ersten Seite an versprüht das Buch die pure Lust am Reisen, an fremden Menschen und ihren Geschichten. Dabei geht es nicht um das Abklappern von Sehenswürdigkeiten, sondern um die Faszination des Reisens an sich. Das uns, wir ahnen es bereits, am Ende zu uns selbst zurückführt. Es gelingt der Autorin, unzählige thematische Fäden elegant zu verknüpfen: die Geschichte der beiden Frauen, das Schicksal des Uiguren-Volkes und der Konflikt mit den Han-Chinesen, das Flair der Seidenstraße, die historischen Städte, der Tourismus, vergessene alte Höhlen, die Tücken der chinesischen Provinzadministration, ambitionierte Entwicklungshilfeprojekte, die in den Sand der Wüste gesetzt werden …
Das Buch beschreibt sehr anschaulich, wie dabei die westliche Sichtweise auf östliche Realität prallt bzw. daran abprallt. Und wie leicht gut gemeinte Versuche scheitern, diese fremden Lebenswelt beeinflussen zu wollen. Selbst mit chinesischen Sprachkenntnissen bleibt der europäischen Entwicklungshelferin letztlich nur die radikale Abgrenzung, um ihren Status zu wahren. Und wer nicht aufpasst oder den Halt verliert, den verschlingt die lebensfeindliche, staubige Taklamakan, Wüste ohne Wiederkehr, mit Haut und Haar.
Die Geschichte.
Roxana reist Ende der 1990er Jahre mit einem Stipendium nach Xinjiang, um buddhistische Höhlenmalereien zu erforschen. Danach will sie in Berlin ihre Doktorarbeit schreiben. Im Zug trifft sie Alex, einen Schweizer Studenten. Sie reisen gemeinsam weiter, teilen erst den Bus und dann das Bett. Sie spricht Chinesisch, empfindet sich als ernsthafte, nicht touristisch Reisende, und war schon früher in der Gegend, Traveller Alex ist spontan und abenteuerlustig. Für Roxana ist er eine zwiespältige, aber nicht unwillkommene Begleitung. Sie reisen durch die Wüste bis Kashgar an der pakistanischen Grenze und weiter nach Khotan. Roxana geht zu Fuß in die Wüste, erforscht Höhlen, spricht mit Einheimischen, wälzt Bücher in Bibliotheken und begibt sich allein auf eine riskante Fahrt in ein Wüstendorf.
Die weit herumgekommene und recht abgeklärte Entwicklungshelferin Linda aus Berlin fährt um 2010 mit ihrem Kollegen Herrmann nach Xinjiang, um dort ein Projekt zu forcieren, bei dem es um Obstbäume und Bewässerungssysteme für Baumwollplantagen geht. Die Region gilt als unsicher, immer wieder kommt es zu Anschlägen uigurischer Rebellen und es gibt kaum öffentliche Verkehrsmittel. Linda, die chinesisch spricht, organisiert Fahrzeuge, die Unterkunft und verhandelt mit Behörden. Nachts wird sie von Erinnerungen an schreckliche Erlebnisse geplagt und zweifelt an der Sinnhaftigkeit ihrer Mission. In einer alten Karawanserei, in der auch Roxana vor 20 Jahren wohnte, stößt sie auf deren Aufzeichnungen. Der Kreis schließt sich, zurück in Deutschland, als Linda Roxanas Familie in Brandenburg besucht.
Abenteuer, Profilneurosen, Auflösung und Fremdheit
Die männlichen Reisebegleiter schneiden im Buch nicht sonderlich gut ab, sie sind eher Randfiguren und tappen häufig im Dunkeln, verhalten sich unbedacht und stolpern von einem Fettnäpfchen ins andere. Von Abenteuerlust oder Profilneurosen getrieben, scheitern sie an Sprach- und Ortskenntnissen oder unklaren Vorstellungen von politischen Zusammenhängen, sie verhalten sich gegenüber chinesischen Behörden arrogant und ungeschickt.
Dagegen lässt uns die Autorin sehr einfühlsam nachempfinden, was die beiden reisenden Frauen antreibt, wie sie sich in der schwierigen Region alleine durchschlagen, manchmal knallhart verhandeln; um sich dann doch wieder treiben zu lassen, sich zu verlieben und sich zu verlieren oder sogar ganz aufzulösen in dieser flirrenden, undurchsichtigen Stimmung zwischen Widerstand und Resignation, die die Region prägt.
Zwischen den Zeilen ist jenes Fremdheitsgefühl zu spüren, das sich einstellt, wenn man in der Ferne ganz auf sich selbst zurückgeworfen ist. Und erkennt, dass man auch im hintersten Winkel der Welt nicht vor sich selbst fliehen kann. Diese erschöpfte Ratlosigkeit bis hin zu Verzweiflung und Verlorenheit, aber auch die merkwürdigen Liaison mit anderen Travellern, kennen wohl die meisten, die sich auf schwierigen Wegen an Orte begeben, an denen kaum jemand vorher war oder wohin sich nur wenige wagen.
Was mache ich eigentlich hier.
Diese Frage beantwortet sich unter Reisenden letztlich wie von selbst: Es sind die Menschen und ihre Geschichten, die entdeckt und erzählt werden wollen, die Landschaften und Kulturschätze, aber vor allem die gastfreundlichen offenen Begegnungen und Freundschaften, die es sich immer wieder neu zu erleben lohnt.
Mit Alice Grünfelders Roman „Die Wüstengängerin“ betreten wir dieses Neuland, erfahren vom Schicksal der Uiguren und vieles mehr aus der geheimnisvollen Wüste Taklamakan. Das Buch öffnet ein Fenster in eine weite, wilde Welt abseits der ausgetretenen Pfade.
„Die Wüstengängerin“ ist nicht nur für China-Interessierte, Wüstenfans, Weltreisende, Traveller, alleinreisende Frauen und Daheimgebliebene, die vom Reisen träumen, eine lohnende Lektüre. Sondern auch für Freunde und Freundinnen eleganter Reiseromane, die in gekonnt gesetzten Worten und schönem Stil von inneren und äußeren Reiseabenteuern erzählen.
Es ist ein Roman, der lange nachhallt.
Die Wüstengängerin
Alice Grünfelder
Verlag edition 8, Zürich
Gebunden, Fadenheftung, Lesebändchen
Fr. 26.00, Euro: 22.20 / ISBN: 978-3-85990-338-8
gebunden bestellbar über Autorenwelt
oder als Ebook für 14,15/16,99 Euro über div. Anbieter
Links zum Buch:
- http://www.edition8.ch/buch/die-wuestengaengerin/
- http://www.literaturport.de/Alice.Gruenfelder/
- https://www.literaturfelder.com/die-wuestengaengerin/