Das neue Storl-Gartenbuch im Praxistest: Bio-Gärtnern vom Feinsten.
Biodynamisches Gärtnern und die Welt von Text, Internet und Algorithmen, in der ich mich bewege, haben auf den ersten Blick nicht viel miteinander zu tun: Praktische Betätigung in der Natur vs. reine Kopfarbeit am Schreibtisch. Das eine Hobby, das andere Beruf – und trotzdem ranken sich die langen Triebe der Gurkenpflanze bis in die Netzwelt hinein.
Der Code der Natur – dynamisch, organisch, unkalkulierbar.
Bevor ich zum Buch komme, muss ich vielleicht erklären, warum ich es rezensiere. Wer sich darauf einlässt – wahlweise aufs Gärtnern oder aufs Internet – wird feststellen: jenseits der körperlichen Aktivität sind sich diese zwei Arbeitswelten relativ ähnlich. In beiden laufen organische, lebendige und bewegliche Prozesse ab. Sie folgen bestimmten Rhythmen, bleiben aber dynamisch und sind drum nicht bis ins Detail kontrollierbar. Diverse unberechenbare Faktoren beeinflussen das Ergebnis – sowohl in der Natur als auch im Netz. Algorithmisch gesehen ist ökologisches Gärtnern ohne Kunstdünger die einzig sinnvolle Option, denn nur sie folgt dem unumstößlichen Code der Natur.
Der Lohn = die Ernte?

Diese Gleichung ist mir zu simpel, denn, Gärtnern bedeutet so viel mehr als Effizienz. Der Anthropologe, Ethnologe und Lebenskünstler Wolf-Dieter Storl erklärt uns die Grundlagen des naturnahen Gärtnerns praxisbezogen und leicht verständlich.
Anders als herkömmliche Gartenratgeber und -Kalender, stellt er die Gartenarbeit jedoch immer in einen größeren Zusammenhang. Das macht das Buch besonders lesenswert – vielleicht sogar für Nicht-Gärtnernde.
Nach meinem Empfinden geht es, neben all dem Gemüse, um viele andere Dinge. Einen Garten zu erleben, hat viel Philosophisches, man spürt die Zeit und den Kreislauf der Erneuerung, das Wachsen, Werden und Vergehen. Ein Bio-Garten hat mit Ästhetik und Geschmack zu tun, mit Sinnlichkeit, Poesie, Kunst und Glück, bietet Bodenkontakt, Erfolgserlebnisse, Körperlichkeit und Meditation, Begegnung, Ruhe, Rhythmus und Konsequenz, ist kontemplativ und erholsam. Last not least ist ein Garten das reinste Fitnessstudio: bücken, strecken, dehnen, heben … echt anstrengend.
Gärtnern ist das neue Bloggen.
Seit einigen Jahren genieße ich den Luxus, in Berlin auf einem idyllischen Plätzchen an der Havel biodynamisch gärtnern zu können. Mit einem Kleingarten hat das wenig zu tun. Die kreisrunden Felder im Berliner bauerngarten werden geteilt mit vielen Mit-Gärtnernden, in partizipativer Öko-Landwirtschaft. Initiator Max von Grafenstein, studierter Öko-Landwirt und freundlicher Meister seines Fachs, vermittelt uns das, was Storl im Buch beschreibt, live und in Farbe – in lebendigen Acker-Workshops. Er und sein Team kümmern sich um Grund und Boden, Pflanz- und Saatgut, Pferdemist und Bewässerung, Erntefest, Verteilung.
Somit kann ich aus praktischer Erfahrung bestätigen, dass Storls Garten-Tipps funktionieren. Wer gute Jungpflanzen hat und sich an Storls Anweisungen hält, wird erfolgreich ernten. Das Buch enthält viele praktische Informationen, wie eine erfolgreiche Bio-Ernte ohne zerstörerischen Kunstdünger, fragwürdige Gentechnik und giftige Schädlingsbekämpfung gelingen kann. Damit unterm Strich tatsächlich so viel Gemüse in der Pfanne liegt, dass es über die ganze Erntesaison und für alle reicht.
Die Natur bestimmt das Gartenjahr, Quaken den Kalender.
Den phänologischen Jahreskalender, auf dem Storls Buch basiert, richtet sich nach den „Erscheinungen der Natur“ („Froschhochzeit“;). Jedes Kapitel widmet sich einer der 10 Gartenphasen … was ist wann zu tun, welche Pflanzen sind aktuell, wie und wann wird umgegraben, eingepflanzt, gemulcht, kompostiert, geerntet.
Die Texte sind klar und prägnant geschrieben, die Inhalte im bewährten GU-Stil übersichtlich strukturiert, Corporate Design und Buchlayout bis ins Detail durchdacht gestaltet und sorgfältig illustriert. Per GU-App lassen sich einige Fotos scannen und zum Kapitel passende, sehr schön produzierte Videos abspielen. News & Kostproben: der-selbstversorger.de
Storl zeigt in Worten, Bildern und Videos, wie ein naturnaher Garten über das Jahr funktioniert – von der Planung und den Werkzeugen über die Gartentheorie zu Mischkultur, Pflanzenfamilien, Stark- und Schwachzehrern bis hin zur handfesten Praxis wie Schnecken vertreiben, mulchen und Brennesseljauche herstellen … Er teilt sein wertvolles Garten-Wissen großzügig mit uns.
Der Aspekt der Selbstversorgung spielt insofern eine Rolle, da Storl in den ersten Jahren auf seinem Einödhof, ohne weiteres Einkommen wie er schreibt, mit dem eigenen Gemüse die Familie ernährte. Für mich war die Vorstellung schon immer reizvoll, bis zur letzten Zwiebel frei, autark und unabhängig zu leben – allerdings ohne darüber zu verarmen. Echte Autonomie hat aus meiner Sicht auch mit Wissen und Geld zu tun. Eine (freiberufliche) Einzelselbstständigkeit wie meine ist ohnehin „Selbstversorgung“ per se. So gesehen ergänzt feinstes Bio-Gemüse aus Eigenanbau perfekt das Budget.
Der Öko-Philosoph.
Im Vorwort – es ist das beste, das ich seit langem gelesen habe – schlägt der Autor den Bogen zur ökologischen vs. industriellen Landwirtschaft. Und er beschreibt, wie er zum Gärtnern kam: Storls Eltern zogen einst von Sachsen in die USA, dort lehrte er an Universitäten, lebte in einer Camphill-Gemeinschaft in der Schweiz, verfasste in Oregon den alternativen Organic-Gardening-Bestseller Culture and Horticulture, bereiste Asien und landete schließlich mit seiner Frau auf einem „Einödhof“ im Allgäu. Wo die Menschen so eigensinnig wie die Winter lang sind, wie ich hörte.
Wohl in solchen Wintern verfasst er Bücher – meist mit recht esoterischem Klang („Ur-Medizin“, „Die alte Göttin und ihre Pflanzen“, „Ich bin ein Teil des Waldes“). Das hat mich bisher davon abgehalten, mich näher damit zu befassen – mein Schamanenbedarf ist bis auf Weiteres gedeckt. Zum Glück kommt sein aktuelles Gartenbuch ganz anders daher, es ist exzellent lektoriert, sehr praktisch, griffig, schnörkellos. Und das schreibe ich jetzt nicht nur, weil mir die Lektorin höchstselbst dieses Buch schenkte.
Achtsamkeit – Phänologie – der Erde und dem Leben treu bleiben …
Das sind Storls Stichworte. Nach der Lektüre von „Der Selbstversorger – Mein Gartenjahr“ sage ich, es ist nicht esoterisch, sondern bodenständig und wahrhaftig. Storls Stil jedenfalls wird geprägt von analytischem Denken, wissenschaftlicher Feldforschung und viel Lebenserfahrung. Dass er über 70 Jahre alt ist (die Generation meiner Eltern wie auch von Keith Richards), merkt und sieht man ihm nicht an, nicht bloß wegen seiner fröhlichen Dreadlocks und Wolfs-T-Shirts. In den Videos agiert er vital, freundlich, sinnesfroh, humorvoll und konsequent bis in die Barfuß-Schuhsohle – weitgehend ohne Pathos und Predigt. Nicht zuletzt deshalb ist er überzeugend – und zeigt uns Freundinnen und Freunden der Biogartenkultur gut gelaunt, was eine Harke ist.
Fazit: Kaufen, lesen, losgärtnern.
Traurig, aber wahr: In Deutschland werden nur 6,3 Prozent der Äcker ökologisch bewirtschaftet. (Umweltbundesamt Statistik 2014) – Lasst uns das ändern!